Das Wachstum eines geköpften Baumes verfolgen

Wann gilt ein Baum als tot? Diese Frage führt bei einer gängigen Suchmaschine zu mehreren zehntausend Antworten. Von Hobbygartenarbeit bis hin zu Gesetzgebung ist sie für viele Gebiete von praktischem Interesse, nicht zuletzt für die Forstwirtschaft. Wartet man ab, bis die Bäume eindeutige Sterbesymptome zeigen, können sich nämlich die Waldbedingungen so verschlechtern, dass sie einen Käferbefall begünstigen, wodurch auch gesunde Bäume in Mitleidenschaft gezogen werden.

In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Ansätze dazu, den Mortalitätsprozess zu verstehen, den «Point of no return» zu bestimmen und den Zeitpunkt des Baumsterbens vorherzusagen bzw. zu rekonstruieren. Einige Forschende sind sogar zu dem Schluss gekommen, dass sie Bäume töten müssen, um Mortalität zu untersuchen.

Die Nacht des lebenden toten Baumes

Der WSL-Baumphysiologe Roman Zweifel musste nicht zu diesem extremen Mittel greifen. In der Nacht auf den 13. Juli 2021 fegte der Sturm Bernd über Europa. Er richtete in der Schweiz 13 Milliarden Schweizer Franken Schaden an – und traf vier Bäume aus Zweifels landesweitem Monitoring- und Forschungsnetzwerk TreeNet: Auf dem WSL-Campus in Birmensdorf wurde eine 30 Meter hohe Fichte auf 4 Metern abgeknickt. Und etwa 20 Kilometer weiter südlich, nah Muri (Kanton Aargau), wurden im Wald drei Buchen umgeweht, deren Wurzeln teilweise im Boden blieben.

Diese Naturkatastrophe hatte für Roman Zweifel einen unerwarteten Lichtblick. Wie 450 andere Bäume an mehr als 50 TreeNet-Standorten waren alle vier Bäume bereits Jahre zuvor mit Punktdendrometern ausgestattet worden. Diese hochpräzisen Geräte überwachen das radiale Stammwachstum stündlich mit einer Auflösung von einem Mikrometer. Sie blieben nicht nur wie durch ein Wunder vom Sturm verschont. Sie zeichneten sogar weiterhin Wachstum auf.

Sterbend, tot, am totesten

Die Daten, die nach dem Sturm fast in Echtzeit auf der Website von TreeNet angezeigt wurden, erzählen eine erstaunliche Geschichte. Die entwurzelten Buchen wuchsen fast zwei Monate lang weiter. Noch spektakulärer: Nach der Enthauptung erreichte die Fichte 10-15 % ihres jährlichen Wachstums.

Für Roman Zweifel und seine TreeNet-Kollegen lassen sich diese Beobachtungen dadurch erklären, dass die geschädigten Bäume gespeicherten Kohlenstoff nutzten. Zudem hatte die Fichte den Vorteil, dass sie nicht mehr Feuchtigkeit über ihre Nadeln abgab, so dass ihre Kambiumzellen nicht an Turgor verloren. In diesem optimalen Zustand wurden die Zellteilung und -ausdehnung nicht mehr durch Wasserdefizite eingeschränkt. Dadurch konnte dieser Baum wachsen – sogar prächtig –, da er täglich nur sehr wenig schrumpfte. Wie es eine frühere Studie von Roman Zweifel et al. belegt hatte, schrumpfen nämlich Bäume tagsüber, wenn die Luft trockener wird, und wachsen daher hauptsächlich nachts.

Die geköpfte Fichte war im kommenden Frühjahr höchstwahrscheinlich tot, auch die hochpräzisen Messgeräte konnten dann keine physiologische Aktivität mehr detektieren. Die umgelegten aber noch lebenden Buchen wurden im Herbst 2021 vom Forstdienst entfernt.

Enge Zusammenarbeit

Die Langzeitaufzeichnungen und hochauflösenden Daten, die für diese vier sturmgeschädigten Bäume sowie für die anderen 400 unbeschädigten Bäume verfügbar sind, können die aktuellen Diskussionen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft über den Kohlenstoffstoffwechsel und den Wasserhaushalt von Waldbäumen bereichern. Die hohe zeitliche Auflösung der Daten in Verbindung mit dem breiten geografischen Gebiet, das TreeNet abdeckt, insbesondere für das Baumwachstum, ist möglicherweise weltweit einzigartig.

TreeNet arbeitet eng mit anderen Netzwerken und Forschungsgruppen zusammen – den Eddy-Flux-Supersites Seehornwald Davos (LWF/ETH Zurich/SwissFluxNet/ICOS) und Lägeren (LWF/ETH Zurich/SwissFluxNet), dem Langfristige Waldökosystemforschung LWF Programm (LWF/WSL), der ETH Zürich (Waldlabor), der Universität Basel (Canopy Crane Site Hölstein) und dem Institut für Angewandte Pflanzenbiologie (IAP).

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